Südwestfunk
Baden-Baden (SWF)
S2 Kultur Freitag, 3.7.1998
Musikstunde mit
Christian Schruff
Kein
Mauerblümchen zwischen Witz und Schattendasein:
Die
Bratsche
5.
Teil: Witze und Kurisositäten
Christian Schruff
Lebt als Moderator und Journalist in Berlin. Schon während des Studiums der Musikwissenschaft in Münster begann er seine Tätigkeit beim WDR Köln. Seit 1994 moderiert er die Sendung „LILIPUZ-Radio für Kinder“. Zu hören ist er außerdem im „Klassik Forum“, der Kinder-Musiksendung „PAPAGENO“ in WDR 3 und beim SWR in der „Musikstunde“. Er arbeitet mit im Kinderprogramm des Kölner Gürzenichorchesters und moderiert Programme mit Concerto Köln. Moderator der Kinderkonzerte im Musikpädagogischen Programm des Symphonieorchesters der Stadt Münster ist er seit 1999
Moderation
Der Solobratscher eines kleineren deutschen Kulturorchesters ist gestorben
und gelangt an die Himmelspforte - zufällig gleichzeitig mit einem Priester.
Petrus öffnet das kleine Fensterchen in der Himmelspforte, sieht die zwei
Seelen, die Einlaß begehren: “Leider kann ich nur einen von Euch herein lassen,
wir haben im Moment nicht mehr Platz”, bedauert Petrus und öffnet - welche
Überraschung - dem Bratscher die Tür. Darauf fragt der Preister empört, wieso
denn ausgerechnet er draußen bleiben müsse, zählt auf, wie viele Messen er
gelesen habe, wie viele Predigten und Gebete.
Darauf Petrus zu dem Priester: “Alles gut und schön. Nur wenn Du
gepredigt hast, hat die ganze Gemeinde geschlafen. Aber wenn der Bratscher ein
Solo hatte, haben alle gebetet.”
Nun, auf diesen ersten Bratschenwitz folgt sogleich das Gebet einer
Solobratsche. Es ist das jüdische
freitagabendliche Gebet über dem Sabbatmahl - Kiddush. Komponiert hat es 1946
in New York der Sohn des Chefkantors der Dessauer Synagoge, ein Sproß
einer Rabbiner- und Kantorenfamilie:
Kurt Weill. Die Originalbesetzung sieht einen Kantor, gemischten Chor und Orgel
vor. Aber die traditionell jüdisch gefärbte Melodie und die damals aktuellen
Broadway-Anklänge wirken auch im Arrangement für eine Solobratsche - die große
Bratschistin Rivka Golani spielt sie - und ein ganzes Bratschenorchester: die
48 Bratschen aus der Academy of St. Martin in-the-Fields, dem BBC Symphony
Orchestra, The London Philharmonic und dem Orchestra of the English National
Opera.
MUSIK
1 Viola Sound-CD Track 2 5´02
Kurt Weill (K), Julian Milone (Arr.):
Kiddush
Rivka Golani + 48 Bratschen aus Academy of St. Martin
in-the-Fields, BBC Symphony Orchestra, The London Philharmonic und Orchestra of
the English National Opera.
CALA, CACD 0106
48 Bratschen aus Londons Orchestern zur Einstimmung auf eine Musikstunde
mit Witzen und Kuriositäten rund um die Bratsche und die Bratscher.
Die Einstimmung ist wichtig, auch beim gemeinsam Musizieren. In ihrem
Büchlein “Das stillvergnügte Streichquartett” haben die passionierten
Quartettspieler Bruno Aulich und Ernst Heimeran schon vor 60 Jahren darüber
geschrieben:
“Anfang und Ende des Stimmens ist nicht ein gemeinsamer Radau, sondern
das schlichte, einsame a. Wer das richtige hat, ist allerdings eine Preisfrage.
Das höchste a haben immer die Geigen. Bratsche und Cello legen dagegen Wert auf
ein tiefes a. Der Bratschist hat eigentlich überhaupt kein a, weil er nie übt.
Aus der Stimmung seiner Saiten kann man lediglich abnehmen, wie sich in den
letzten Tagen das Wetter verhalten hat. War es heiß, dehnten sich die Saiten
und klingen tief; war es kalt, zogen sie sich zusammen und klingen hoch. Man
muß froh sein, wenn der Bratschist überhaupt eine a-Saite hat; denn bisweilen
ist sie geplatzt oder doch so faserig, daß man sie erst mit einer Schere
mühselig glattstutzen muß. Hoffentlich hält sie noch.”
Soweit zunächst Heimeran und Aulich über den Bratscher und seine a-Saite.
Manche Bratscher sollen ja tatsächlich etwas außerhalb der Welt stehen,
eigentümliche, aber liebenswerte Zeitgenossen sein. Von einer solchen Person
erzählt Edward Elgar in der sechsten
seiner “Enigma-Variationen” - dieser klingenden Portraitgalerie - und zwar im
Portrait einer Schülerin, die Elgar gern unterrichtete, der jungen Mrs Isabel
Fitton. Sie nahm eine Zeitlang Bratschenunterricht bei Elgar. Offenbar war sie
aber selbst mit ihren Fortschritten nicht zufrieden und gab den Unterricht auf;
vielleicht wollte sie die Freundschaft zu Elgar durch ihr Bratschenspiel nicht überstrapazieren. Elgar beschrieb
Isabel als sehr lustig, als elegant, hochgewachsen. “Sie schien eher zu fließen
als zu gehen, kam immer zu spät zum
Orchester und saß dann inmitten vieler Schals und ihrer verstreuten Habe”.
Elgar hat sie natürlich mit einem Bratschensolo verewigt. Die ersten Töne
seines “Enigma”-Themas hat er dabei weit auseinandergespreizt, so daß sie auf
drei Saiten der Viola verteilt sind. Eine schwierige Übung für Bratschenschüler
- und: ein musikalisches Abbild der hochgewachsenen Isabel Fitton.
MUSIK 2 Einspielband 1´15
Edward Elgar: Enigma-Variationen, VI. Ysobel
The London Philharmonic, Ltg.: Sir Adrian Boult
EMI, 7 67354 2, LC 0464
Übrigens: Edward Elgar´s Cellokonzert ist von dem Bratscher Lionel Tertis in
den 20er Jahren für Bratsche umgearbeitet worden, also höher transponiert.
Offenbar mit ausdrücklicher Billigung des Komponisten, denn Elgar hat es in
dieser Version mit Tertis als Solisten dirigiert. Solche Umarbeitungen von
Cello-, mehr noch von Geigenwerken für die Bratsche haben viele Bratscher als
Bereicherung des kleineren Bratschenrepertoires gemacht - wofür sie von den
Geigern allerdings manchmal auch belächelt werden. Für die ist das Rezept klar:
Wie kann man ein Violinkonzert für Bratsche umschreiben? Ganz einfach: Man
muß nur das Tempo, die Metronomangaben halbieren.
Denn, wie jeder weiß, Bratscher sind die langsamsten Musiker. Wußten Sie
zum Beispiel, daß Oetzi, der Mann aus dem Gletscher-Eis, daß dieser Oetzi mit
Sicherheit auch Bratscher gewesen ist? Wie sonst hätte es wohl passieren
können, daß er sogar von einem Gletscher überrollt wird? ...
Nicht im halben Tempo, sondern nur tiefergelegt für Bratsche, aber dennoch
ebenso extatisch: der Beginn des 2. Satzes aus César Francks Violinsonate
A-Dur.
MUSIK 3 CD
Track 2 ausblenden
bis 2´44
César Franck (K), Joseph Vieland
(Arr.): Sonate A-Dur, 2. Satz Allegro
Nobuko Imai (Viola), Roger Vignoles
(Klavier)
CHANDOS, CHAN 8873, LC 7038
Die ewige Suche der Bratscher nach spielbarer Literatur für Ihr Instrument
scheint übrigens zu einem grundsätzlichen Wesenszug dieser Instrumentalisten zu
gehören. Im “Stillvergnügten Streichquartett” kann man dazu folgendes lesen:
“Die Literatur! Sie ist des Bratschisten große Leidenschaft. Er möchte
möglichst alles spielen und gespielt haben. Er behauptet, Hausquartette seien
nicht dazu da, das zu machen, was ohnehin überall zu hören ist, sondern sich
mit Mut und Begeisterung jener Werke anzunehmen, die entweder bereits vergessen
oder noch gar nicht bekannt sind. Er schleppt jedesmal einen ganzen Stoß neuer
Noten herbei, und man betrachtet nicht uninteressiert, was er wieder
aufgestöbert hat. Meist ist ein Boccherini dabei; diese sammelt er auf Vollständigkeit
(54 Streichtrios, 91 Streichquartette, 125 Streichquintette!).
Dann geht es ziemlich unvermittelt in die Moderne; er schwärmt natürlich
für Hindemith, schon weil er in ihm den ausübenden Bratschisten verehrt, was
man seinen Kompositionen auch anmerke. Sie seien ausgesprochen bratschistisch
empfunden.
“Größenwahn” sagt der Primarius häßlich. “Ist ja alles gar nicht zu machen.
Behauptest Du vielleicht, daß Du das spielen kannst?” - Und er hält unserm
Bratschisten die Stimme unter die Nase.
Das ist natürlich ein wunder Punkt. Wenn unser Bratschist zwar auch kein
heruntergekommener Geiger, sondern ein Edelbratschist ist, einer, der sein
Instrument bejaht, nicht weil es leichter, sondern weil er in seinen Klang und
seine Art verliebt ist, so geraten seine raffinierten Neigungen doch oft in
Widerspruch zu seiner Technik. Er beschließt dann heimlich, einmal acht Tage
lang zu üben [... so daß seine Quartettgenossen] sprachlos sind; aber leider
ist es noch nicht so weit und vorerst muß er klein beigeben.
Mitunter treibt die Literatursuche der Bratschisten und die Freude über
jedes neue Werk aus berühmter Feder seltsame Blüten. Als William Primrose 1946
das folgende Bratschenkonzert aufgenommen hat, da glaubte er zum Beispiel, daß
es von niemand geringerem als Georg Friedrich Händel komponiert worden sei.
MUSIK 4 CD
Track 1 ausblenden
bis 3´35
Henri Casadesus: “Händel”-Konzert
h-Moll, 1. Satz
William Primrose (Viola), RCA Victor Symphony
Orchestra, Ltg.: Frieder Weissman
PEARL, Gemm CD 9252, LC 1836
Es sagt schon viel über das Händelbild vor einem halben Jahrhundert, daß
man dieses Bratschenkonzert für ein Werk Georg Friedrich Händels halten konnte.
Tatsächlich ist es allerdings eine Fälschung aus den ersten Jahrzehnten unseres
Jahrhunderts, ein romantisch angehauchtes, pseudobarockes, aber zweifellos
originelles Konzert. Sein tatsächlicher Komponist war der französische
Bratscher Henri Casadesus. Ein Mann, der sich ansonsten durchaus ernsthaft um
die Wiederentdeckung alter Musik und Musikinstrumente gekümmert hat. Dazu
gründete er zusammen mit Camille Saint-Saëns 1901 die “Société des Instruments
anciens”.
Von dieser Gesellschaft für die alten Instrumente habe ich Ihnen auch ein
kurzes Tonbeispiel mitgebracht, aufgenommen 1930. Da können Sie Henri Casadesus
auf einer Viola d´amore hören - passend zum Stück: Plaisir d´Amour von Johann
Paul Aegidius Martini.
MUSIK 5 CD
II Track 6 ausblenden bis 2´25
Johann Paul Aegidius Martini:
Plaisir d´Amour
Henri Casadesus (Viola d´amore),
Société des Instruments anciens
PEARL, Gemm CDS 9148, LC 1836
Übrigens: Henri Casadesus hat noch ein weiteres gefälschtes
Bratschenkonzert auf den Markt gebracht - als ein Werk Johann Christian Bachs.
Das muß wohl in der Musikerdynastie Casadesus ein Familienspaß gewesen sein,
denn der geigende Bruder Marius Casadesus hat ein
Pseudo-Boccherini-Violinkonzert geschrieben und das ebenso berühmte wie falsche
“Adelaide”-Konzert - eben nicht von Mozart.
Vielleicht hat es Henri Casadesus einfach gewurmt, daß so viele
Bratschenkonzerte des 18. Jahrhunderts eben leider nicht von den großen
Meistern stammen, sondern von Komponisten, die gemeinhin als Kleinmeister
gelten: Hofstetter (der Komponist des Haydn zugeschrieben Serenaden-Quartetts),
Hoffmeister (der Gründer des heute unter dem Namen Peters bekannten
Musikverlags) und zum Beispiel Carl Ditters von Dittersdorf.
Dittersdorf ist so etwas wie der Anwalt der Streicher-Randgruppen: Er hat
ein Bratschenkonzert geschrieben und ein Kontrabaßkonzert, sogar eine
gemeinsame Sinfonia concertante für diese beiden unterprivilegierten
Instrumente und auch noch eine Sonate für Bratsche und Kontrabaß.
MUSIK
6 CD
Track 4 3´03
Carl Ditters von Dittersdorf: Sonate
für Viola und Kontrabaß Es-Dur, Menuetto II
Franz Beyer (Viola), Paul Breuer
(Kontrabaß)
FONO, FCD 91 009, LC 3199
Haben Sie gehört, wie gerade im Mittelteil, im Trio des Menuetts von
Dittersdorf der Bratscher Franz Beyer und der Bassist Paul Breuer ganz düstere,
bedrohliche Töne angeschlagen haben? Das klang schon sehr wie in einer Oper,
wenn´s richtig gruseln soll.
In Carl Maria von Webers Freischütz gruselt´s ja reichlich. Aber wenn im
dritten Aufzug das Ännchen die von schrecklichen Visionen in Angst versetzte
Braut Agathe auf andere Gedanken bringen will und sie dabei aber eigentlich
verspottet, indem sie ihr nämlich einen schaurigen Traum erzählt, dann bekommt
Ännchen dabei tatkräftige Hilfe aus dem Orchestergraben von einer Solobratsche.
Die spielt anfangs das gemeine Schauermärchen mit, schwenkt dann aber genauso
schnell wie Ännchen auf heitere Töne um, als dieses merkt, wie die
Traumgeschichte alles nur noch schlimmer macht.
MUSIK 7 CD
II Track 4 // bei 6´57
Carl Maria von Weber: aus “Der
Freischütz”, Romanze und Arie des Ännchen
“Einst träumt
meiner sel´gen Base / Trübe Augen” (III)
Christine Schäfer, Berliner
Philharmoniker, Ltg.: Nikolaus Harnoncourt
TELDEC, 4509-97758-2, LC 6019
Christine Schäfer als Ännchen und die Berliner Philharmoniker unter
Nikolaus Harnoncourt mit Romanze und Arie des Ännchen aus Webers “Freischütz” -
unter Bratschen oft einfach nur “der Kettenhund” genannt.
Apropos Hund: Was ist der Unterschied zwischen einem Bratscher und einem Hund?
Der Hund weiß, wann er aufhören muß zu kratzen ...
Und dann war da noch der Bratscher auf Wanderschaft in der Lüneburger
Heide. Er traf einen Schäfer und seine Herde und fand Gefallen an den Tieren. Also
fragte er den Hirten: “Wenn ich erraten kann, wie viele Schafe sie haben, kann
ich dann eines davon haben?”
Nun, der Hirt wunderte sich zwar, willigte aber schließlich ein, denn wie
sollte der Mann wohl die genaue Zahl der Schafe schätzen. “In Ordnung”, sagte
er. Der Bratscher schätzte, “Sie haben 287 Schafe”, sehr zur Überraschung des
Schäfers, denn es war exakt die Zahl seiner Schafe. Also suchte sich der
Bratscher ein Tier aus, bückte sich, hob es auf und legte es sich über die
Schultern.
Da hatte der Schäfer eine Idee und sagte: “Wenn ich Ihren Beruf errate,
kann ich mein Schaf dann zurück haben?” Der Bratscher war sicher, daß der
Schäfer seinen Beruf nicht erraten würde und stimmt zu. “Sie sind Bratscher, nicht wahr?” sagte der
Schäfer.
“Wie haben Sie das denn erraten?”, fragte der Bratscher und der Schäfer
antwortete: “Legen Sie meinen Hund wieder hin und wir reden darüber”...
Vollends auf den Hund gekommen ist übrigens eine Bratsche im zweiten Satz
von Antonio Vivaldis Jahreszeiten-Konzert “Der Frühling”. Die Bratsche muß den
bellenden Schäferhund geben, während die Sologeige die süßen Träume des
Schäfers erblühen läßt, untermalt vom Säuseln der Blätter in den Geigen.
MUSIK 8 CD
Track 2 ausblenden bis 1´18
Antonio Vivaldi: La Primavera
op. 8, 1 , 2. Satz
Giuliano Carmignola (Violine und
Leitung), Sonatori della Gioiosa Marca
DIVOX, CDX-79404, LC
Wo wir gerade bei der Barockmusik sind: Wußten Sie schon, wie die Fuge
erfunden worden ist? Durch puren Zufall: zwei Bratscher haben nämlich versucht,
zusammen, gleichzeitig eine Melodie zu spielen. Aber wie das so ist, wenn
Bratscher versuchen, zusammen zu spielen, ein Bratscher ist eben immer zu spät.
So war es auch beim Betriebsausflug eines Orchesters in den Weinberg. Man
wollte Weinbergschnecken sammeln und abends gemeinsam zubereiten. Kurz vor
Mitternacht, als die Tische längst abgeräumt waren, kam endlich schweißgebadet
und mit hochrotem Kopf der Solobratscher mit seinem Sammelkörbchen zurück.
Ganze zwei Schnecken hatte er gefangen. “Wo hast Du so lange gesteckt?” wollen
die Kollegen wissen. Und der Solobratscher, noch ganz außer Atem, seufzt: “Also
diese Schnecken! Da hat man sie fast schon gegriffen, und - husch - weg sind
sie.”
Mit dem Warten hat die nächste Musik zu tun - diesmal aber nicht mit dem
Warten auf einen langsamen Bratscher, sondern mit dem Warten auf einen Zug.
Sicher kennen Sie das selbst: Sie stehen auf dem Bahnsteig, wippen unruhig von
einem Fuß auf den anderen - und vielleicht beginnen Sie unruhig vor sich hin zu
pfeifen oder zu summen - irgendeine unbestimmte richtungslose Melodie.
Genau so etwas hat der australisch-englisch-amerikanische Komponist Percy
Grainger komponiert: “Arrival Platform Humlet” heißt dies kuriose Stück -
geschrieben übrigens für entweder eine Solo-Bratsche oder mehrere Bratschen,
für Oboe, Fagott, Englischhorn oder jeweils mehrere davon, oder auch für eine
Singstimme oder einen Chor - ganz wie´s beliebt. Hier sind es wieder 48
Bratschen - ungeduldig auf dem Bahnsteig, aber entgegen allen Unkenrufen
schnell und zusammen!
MUSIK
9
Viola Sound-CD Track 5 2´46
Percy Grainger: Arrival Platform Humlet
48 Bratschen aus Academy of St. Martin in-the-Fields,
BBC Symphony Orchestra, The London Philharmonic und Orchestra of the English
National Opera.
CALA, CACD 0106
Kennen Sie übrigens schon den kürzesten Bratscherwitz?
Treffen sich zwei Bratscher auf einem Meisterkurs.
Und der längste Bratschenwitz? Der dauert rund vierzig Minuten, ist von
Hector Berlioz und heißt “Harold in Italien” - Harold en Italie - eine
Symphonie mit Solo-Bratsche.
Warum ein Witz? Nun, die Bratsche steht in diesem Stück für den Titelhelden
Harold aus Lord Byrons Versepos “Childe Harold´s Pilgrimage” - die Pilgerfahrt
Kind Harolds. Dieser Held ist ein romantischer Träumer - insofern ist die
Bratsche genau das richtige Instrument für ihn. Aber Berlioz hat ihm in den
vier italienischen Szenen seiner Symphonie nur die Rolle eines Zuschauers
gegeben. Er nimmt nicht Teil am Geschehen, steht am Rande, muß mehr zuhören als
selbst sprechen und wird im Finale sogar gnadenlos überspielt. Fast ist dieses
Nicht-Konzert ein klingendes Gleichnis für so viele nicht erzählte
Bratscher-Schicksale - eben der längste Bratschenwitz.
Doch immerhin: Berlioz hat seinem Solisten den einen oder anderen
besonderen Effekt zugedacht, zum Beispiel das bis dahin auf der Bratsche noch
nicht angewandte Spiel “sul ponticello”. Dabei wird der Bogen ganz dicht am
Steg geführt, dem kleinen Holzbrückchen, das die Saiten trägt. Der Klang wird
dann ganz glasig. Berlioz setzt das ein, als Harold einen Pilgerzug beim Singen
des Abendgebets beobachtet.
MUSIK
10 CD
Track 2 < 2:33 - 5:37 > 3´04
Hector Berlioz: Harold en Italie, op.
16, 2. Satz: Marche des pèlerins
Gérard Caussé (Viola), Orchestre
Révolutionaire et Romantique, Ltg.: John Eliot Gardiner
PHILIPS, 446 676-2, LC
Harold in Italien war übrigens ursprünglich ein Auftragswerk Paganinis. Der
war von Berlioz “Symphonie fantastique” derart begeistert, daß er von Berlioz
ein Solokonzert für Bratsche und Orchester wünschte. Allerdings, als Paganini
dann die ersten Ergebnisse zu sehen bekam, meinte er: “Das geht nicht! Ich schweige
hier viel zu lange! Ich muß immerfort zu spielen haben!” Das aber wollte
Berlioz nicht. Offenbar hielt schon Paganini den Harold für einen Witz und hat
den Auftrag storniert. Erst Jahre später soll er das Werk dann doch begeistert
gelobt haben. Gespielt hat er es aber nie.
Woran Paganini bei dem Auftrag wohl eher gedacht hatte, das hat er
schließlich selbst komponiert, aber auch nicht Konzert genannt, sondern Sonata
per la Grand´Viola e Orchestra. Der Bratscher Hartmut Lindemann hat sie wie
eine Sonate mit Klavierbegleitung aufgenommen - mit Günther Herzfeld am
Klavier.
MUSIK 11 CD
Track 8 ab 8:58 4´18
stumm starten
9 h 48´20
Niccolò Paganini: Sonata per la
Grand´Viola e Orchestra (Schluß)
Hartmut Lindemann (Viola), Günther
Herzfeld (Klavier)
TACET, 21, LC 7033
Solche Musik für die Bratsche, solche Höhen, so schnelle Läufe und Sprünge,
das kann sich nur ein Geiger ausgedacht haben - Niccolò Paganini.
Immerhin: Ein Bratscher konnte es staunenswert spielen: Hartmut Lindemann -
übrigens ein sogenannter “Edelbratscher”, einer der vorher nicht Geige gespielt
hat.
Dabei lehrt uns doch die schönste Typologie des Bratschers in Aulich und
Heimerans “Stillvergnügtem Streichquartett”: “Die Bratsche ist eigentlich
gar keine Bratsche! Es ist ein Geiger mit bitteren Erfahrungen. Auch er saß
einst am Geigenpult - aber nicht lange. Der einmütige Protest der Zuhörer hat
ihn vertrieben. Er spielte so hoch er konnte; es war nicht hoch genug. Seine
Läufe mochten noch so schnell sein, es gelang ihm nicht, über das Fehlen der
vorgeschriebenen Notenzahl hinwegzutäuschen. Das Dienstmädchen des Hauses war
ständig damit beschäftigt, fallengelassene Noten unter seinem Stuhle
aufzulesen. Es ging nicht mehr. Da faßte er den Entschluß und rückte um einen
Stuhl weiter zur Bratsche. Dort wirkt er in Frieden. Mögen die da oben sich
noch so unziemlich gebärden, er sagt sein stilles, ernstes, ein bißchen
wehmütiges Wort dazu. Und wenn er es nicht sagt, wo er es eigentlich sagen
sollte, so ist das auch nicht schlimm. Die Zuhörer merken es doch nicht und die
Mitspieler drücken ein Ohr zu. Sie behandeln ihn mit jener taktvollen
Diskretion, die man einem heruntergekommenen Standesgenossen gegenüber
anwendet. Er ist eine heroisch-tragische Natur.”
Ach, übrigens, habe ich Ihnen eigentlich schon verraten, daß ich auch
Bratscher bin?
Und somit zu den Leuten gehöre, die Bratscherwitze am allerliebsten
weitererzählen und mittlerweile sogar im Internet sammeln? Getreu dem Motto -
frei nach berühmten Indianerwort: “Erst wenn der letzte
C-Schlüssel transponiert, die letzte Viola verschimmelt, alle Bratschenlehrer
vertrieben sind, werdet Ihr feststellen, daß man über anderer Streicher nicht
so schöne Witze machen kann.”
MUSIK
12 Viola
Sound-CD Track 4 4´08
Antonin Dvo_ák (K),
Julian Milone (Arr): Slawischer Tanz e-Moll
48 Bratschen aus Academy of St. Martin in-the-Fields,
BBC Symphony Orchestra, The London Philharmonic und Orchestra of the English
National Opera.
CALA, CACD 0106
Buchtip:
Bratschenwitze, gesammelt von Lisei Bäuerle,
Helmolt und Torsten Schmidt, Zürich und Mainz (Atlantis), 1997
Bestellnummer: ATL 6225
ISBN 3-254-00225-3
Aulich, Bruno und Heimeran, Ernst, Das stillvergnügte Streichquartett,
München (Ernst Heimeran) 1936. (Zahlreiche überarbeitete Neuauflagen!)
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