Südwestfunk Baden-Baden (SWF)

S2 Kultur         Freitag, 3.7.1998

Musikstunde mit Christian Schruff

Kein Mauerblümchen zwischen Witz und Schattendasein:

Die Bratsche

5. Teil: Witze und Kurisositäten

 

 

 

Christian Schruff

Lebt als Moderator und Journalist in Berlin. Schon während des Studiums der Musikwissenschaft in Münster begann er seine Tätigkeit beim WDR Köln. Seit 1994 moderiert er die Sendung „LILIPUZ-Radio für Kinder“. Zu hören ist er außerdem im „Klassik Forum“, der Kinder-Musiksendung „PAPAGENO“ in WDR 3 und beim SWR in  der „Musikstunde“. Er arbeitet mit im Kinderprogramm des Kölner Gürzenichorchesters und moderiert Programme mit Concerto Köln. Moderator der Kinderkonzerte im Musikpädagogischen Programm des Symphonieorchesters der Stadt Münster ist er seit 1999

Moderation

 

Der Solobratscher eines kleineren deutschen Kulturorchesters ist gestorben und gelangt an die Himmelspforte - zufällig gleichzeitig mit einem Priester. Petrus öffnet das kleine Fensterchen in der Himmelspforte, sieht die zwei Seelen, die Einlaß begehren: “Leider kann ich nur einen von Euch herein lassen, wir haben im Moment nicht mehr Platz”, bedauert Petrus und öffnet - welche Überraschung - dem Bratscher die Tür. Darauf fragt der Preister empört, wieso denn ausgerechnet er draußen bleiben müsse, zählt auf, wie viele Messen er gelesen habe, wie viele Predigten und Gebete.   Darauf Petrus zu dem Priester: “Alles gut und schön. Nur wenn Du gepredigt hast, hat die ganze Gemeinde geschlafen. Aber wenn der Bratscher ein Solo hatte, haben alle gebetet.”

 

Nun, auf diesen ersten Bratschenwitz folgt sogleich das Gebet einer Solobratsche. Es ist  das jüdische freitagabendliche Gebet über dem Sabbatmahl - Kiddush. Komponiert hat es 1946 in New York der Sohn des Chefkantors der Dessauer Synagoge, ein Sproß einer  Rabbiner- und Kantorenfamilie: Kurt Weill. Die Originalbesetzung sieht einen Kantor, gemischten Chor und Orgel vor. Aber die traditionell jüdisch gefärbte Melodie und die damals aktuellen Broadway-Anklänge wirken auch im Arrangement für eine Solobratsche - die große Bratschistin Rivka Golani spielt sie - und ein ganzes Bratschenorchester: die 48 Bratschen aus der Academy of St. Martin in-the-Fields, dem BBC Symphony Orchestra, The London Philharmonic und dem Orchestra of the English National Opera.

 

MUSIK 1                                        Viola Sound-CD Track 2                                                            5´02

Kurt Weill (K), Julian Milone (Arr.): Kiddush

Rivka Golani + 48 Bratschen aus Academy of St. Martin in-the-Fields, BBC Symphony Orchestra, The London Philharmonic und Orchestra of the English National Opera.

CALA, CACD 0106

 

48 Bratschen aus Londons Orchestern zur Einstimmung auf eine Musikstunde mit Witzen und Kuriositäten rund um die Bratsche und die Bratscher.

Die Einstimmung ist wichtig, auch beim gemeinsam Musizieren. In ihrem Büchlein “Das stillvergnügte Streichquartett” haben die passionierten Quartettspieler Bruno Aulich und Ernst Heimeran schon vor 60 Jahren darüber geschrieben:

 


Anfang und Ende des Stimmens ist nicht ein gemeinsamer Radau, sondern das schlichte, einsame a. Wer das richtige hat, ist allerdings eine Preisfrage. Das höchste a haben immer die Geigen. Bratsche und Cello legen dagegen Wert auf ein tiefes a. Der Bratschist hat eigentlich überhaupt kein a, weil er nie übt. Aus der Stimmung seiner Saiten kann man lediglich abnehmen, wie sich in den letzten Tagen das Wetter verhalten hat. War es heiß, dehnten sich die Saiten und klingen tief; war es kalt, zogen sie sich zusammen und klingen hoch. Man muß froh sein, wenn der Bratschist überhaupt eine a-Saite hat; denn bisweilen ist sie geplatzt oder doch so faserig, daß man sie erst mit einer Schere mühselig glattstutzen muß. Hoffentlich hält sie noch.”

 

Soweit zunächst Heimeran und Aulich über den Bratscher und seine a-Saite. Manche Bratscher sollen ja tatsächlich etwas außerhalb der Welt stehen, eigentümliche, aber liebenswerte Zeitgenossen sein. Von einer solchen Person erzählt Edward Elgar in der  sechsten seiner “Enigma-Variationen” - dieser klingenden Portraitgalerie - und zwar im Portrait einer Schülerin, die Elgar gern unterrichtete, der jungen Mrs Isabel Fitton. Sie nahm eine Zeitlang Bratschenunterricht bei Elgar. Offenbar war sie aber selbst mit ihren Fortschritten nicht zufrieden und gab den Unterricht auf; vielleicht wollte sie die Freundschaft zu Elgar  durch ihr Bratschenspiel nicht überstrapazieren. Elgar beschrieb Isabel als sehr lustig, als elegant, hochgewachsen. “Sie schien eher zu fließen als  zu gehen, kam immer zu spät zum Orchester und saß dann inmitten vieler Schals und ihrer verstreuten Habe”.

 

Elgar hat sie natürlich mit einem Bratschensolo verewigt. Die ersten Töne seines “Enigma”-Themas hat er dabei weit auseinandergespreizt, so daß sie auf drei Saiten der Viola verteilt sind. Eine schwierige Übung für Bratschenschüler - und: ein musikalisches Abbild der hochgewachsenen Isabel Fitton.

 

MUSIK 2                                                Einspielband                                                                        1´15

Edward Elgar: Enigma-Variationen, VI. Ysobel

The London Philharmonic, Ltg.: Sir Adrian Boult

EMI, 7 67354 2, LC 0464 

 

Übrigens: Edward Elgar´s Cellokonzert ist von dem Bratscher Lionel Tertis in den 20er Jahren für Bratsche umgearbeitet worden, also höher transponiert. Offenbar mit ausdrücklicher Billigung des Komponisten, denn Elgar hat es in dieser Version mit Tertis als Solisten dirigiert. Solche Umarbeitungen von Cello-, mehr noch von Geigenwerken für die Bratsche haben viele Bratscher als Bereicherung des kleineren Bratschenrepertoires gemacht - wofür sie von den Geigern allerdings manchmal auch belächelt werden. Für die ist das Rezept klar:

 

Wie kann man ein Violinkonzert für Bratsche umschreiben? Ganz einfach: Man muß nur das Tempo, die Metronomangaben halbieren.

 

Denn, wie jeder weiß, Bratscher sind die langsamsten Musiker. Wußten Sie zum Beispiel, daß Oetzi, der Mann aus dem Gletscher-Eis, daß dieser Oetzi mit Sicherheit auch Bratscher gewesen ist? Wie sonst hätte es wohl passieren können, daß er sogar von einem Gletscher überrollt wird? ...

 

Nicht im halben Tempo, sondern nur tiefergelegt für Bratsche, aber dennoch ebenso extatisch: der Beginn des 2. Satzes aus César Francks Violinsonate A-Dur.

 


MUSIK 3                                                                CD Track 2                           ausblenden bis   2´44

César Franck (K), Joseph Vieland (Arr.): Sonate A-Dur, 2. Satz Allegro

Nobuko Imai (Viola), Roger Vignoles (Klavier)

CHANDOS, CHAN 8873, LC 7038

 

Die ewige Suche der Bratscher nach spielbarer Literatur für Ihr Instrument scheint übrigens zu einem grundsätzlichen Wesenszug dieser Instrumentalisten zu gehören. Im “Stillvergnügten Streichquartett” kann man dazu folgendes lesen:

 

“Die Literatur! Sie ist des Bratschisten große Leidenschaft. Er möchte möglichst alles spielen und gespielt haben. Er behauptet, Hausquartette seien nicht dazu da, das zu machen, was ohnehin überall zu hören ist, sondern sich mit Mut und Begeisterung jener Werke anzunehmen, die entweder bereits vergessen oder noch gar nicht bekannt sind. Er schleppt jedesmal einen ganzen Stoß neuer Noten herbei, und man betrachtet nicht uninteressiert, was er wieder aufgestöbert hat. Meist ist ein Boccherini dabei; diese sammelt er auf Vollständigkeit (54 Streichtrios, 91 Streichquartette, 125 Streichquintette!).

Dann geht es ziemlich unvermittelt in die Moderne; er schwärmt natürlich für Hindemith, schon weil er in ihm den ausübenden Bratschisten verehrt, was man seinen Kompositionen auch anmerke. Sie seien ausgesprochen bratschistisch empfunden.

“Größenwahn” sagt der Primarius häßlich. “Ist ja alles gar nicht zu machen. Behauptest Du vielleicht, daß Du das spielen kannst?”   -   Und er hält unserm Bratschisten die Stimme unter die Nase.

 

Das ist natürlich ein wunder Punkt. Wenn unser Bratschist zwar auch kein heruntergekommener Geiger, sondern ein Edelbratschist ist, einer, der sein Instrument bejaht, nicht weil es leichter, sondern weil er in seinen Klang und seine Art verliebt ist, so geraten seine raffinierten Neigungen doch oft in Widerspruch zu seiner Technik. Er beschließt dann heimlich, einmal acht Tage lang zu üben [... so daß seine Quartettgenossen] sprachlos sind; aber leider ist es noch nicht so weit und vorerst muß er klein beigeben.

 

Mitunter treibt die Literatursuche der Bratschisten und die Freude über jedes neue Werk aus berühmter Feder seltsame Blüten. Als William Primrose 1946 das folgende Bratschenkonzert aufgenommen hat, da glaubte er zum Beispiel, daß es von niemand geringerem als Georg Friedrich Händel komponiert worden sei.

 

MUSIK 4                                                                CD Track 1                           ausblenden bis   3´35

Henri Casadesus: “Händel”-Konzert h-Moll, 1. Satz

William Primrose (Viola), RCA Victor Symphony Orchestra, Ltg.: Frieder Weissman

PEARL, Gemm CD 9252, LC 1836

 


Es sagt schon viel über das Händelbild vor einem halben Jahrhundert, daß man dieses Bratschenkonzert für ein Werk Georg Friedrich Händels halten konnte. Tatsächlich ist es allerdings eine Fälschung aus den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, ein romantisch angehauchtes, pseudobarockes, aber zweifellos originelles Konzert. Sein tatsächlicher Komponist war der französische Bratscher Henri Casadesus. Ein Mann, der sich ansonsten durchaus ernsthaft um die Wiederentdeckung alter Musik und Musikinstrumente gekümmert hat. Dazu gründete er zusammen mit Camille Saint-Saëns 1901 die “Société des Instruments anciens”.

 

Von dieser Gesellschaft für die alten Instrumente habe ich Ihnen auch ein kurzes Tonbeispiel mitgebracht, aufgenommen 1930. Da können Sie Henri Casadesus auf einer Viola d´amore hören - passend zum Stück: Plaisir d´Amour von Johann Paul Aegidius  Martini.

 

MUSIK 5                                                                CD II   Track 6                      ausblenden bis 2´25

Johann Paul Aegidius Martini: Plaisir d´Amour

Henri Casadesus (Viola d´amore), Société des Instruments anciens

PEARL, Gemm CDS 9148, LC 1836

 

Übrigens: Henri Casadesus hat noch ein weiteres gefälschtes Bratschenkonzert auf den Markt gebracht - als ein Werk Johann Christian Bachs. Das muß wohl in der Musikerdynastie Casadesus ein Familienspaß gewesen sein, denn der geigende Bruder Marius Casadesus hat ein Pseudo-Boccherini-Violinkonzert geschrieben und das ebenso berühmte wie falsche “Adelaide”-Konzert - eben nicht von Mozart.

 

Vielleicht hat es Henri Casadesus einfach gewurmt, daß so viele Bratschenkonzerte des 18. Jahrhunderts eben leider nicht von den großen Meistern stammen, sondern von Komponisten, die gemeinhin als Kleinmeister gelten: Hofstetter (der Komponist des Haydn zugeschrieben Serenaden-Quartetts), Hoffmeister (der Gründer des heute unter dem Namen Peters bekannten Musikverlags) und zum Beispiel Carl Ditters von Dittersdorf.

 

Dittersdorf ist so etwas wie der Anwalt der Streicher-Randgruppen: Er hat ein Bratschenkonzert geschrieben und ein Kontrabaßkonzert, sogar eine gemeinsame Sinfonia concertante für diese beiden unterprivilegierten Instrumente und auch noch eine Sonate für Bratsche und Kontrabaß.

 

MUSIK 6                                                                CD Track 4                                                                           3´03

Carl Ditters von Dittersdorf: Sonate für Viola und Kontrabaß Es-Dur, Menuetto II

Franz Beyer (Viola), Paul Breuer (Kontrabaß)

FONO, FCD 91 009, LC 3199

 

Haben Sie gehört, wie gerade im Mittelteil, im Trio des Menuetts von Dittersdorf der Bratscher Franz Beyer und der Bassist Paul Breuer ganz düstere, bedrohliche Töne angeschlagen haben? Das klang schon sehr wie in einer Oper, wenn´s richtig gruseln soll.

 


In Carl Maria von Webers Freischütz gruselt´s ja reichlich. Aber wenn im dritten Aufzug das Ännchen die von schrecklichen Visionen in Angst versetzte Braut Agathe auf andere Gedanken bringen will und sie dabei aber eigentlich verspottet, indem sie ihr nämlich einen schaurigen Traum erzählt, dann bekommt Ännchen dabei tatkräftige Hilfe aus dem Orchestergraben von einer Solobratsche. Die spielt anfangs das gemeine Schauermärchen mit, schwenkt dann aber genauso schnell wie Ännchen auf heitere Töne um, als dieses merkt, wie die Traumgeschichte alles nur noch schlimmer macht.

 

MUSIK 7                                                                CD II   Track 4                      // bei                       6´57

Carl Maria von Weber: aus “Der Freischütz”, Romanze und Arie des Ännchen

“Einst träumt meiner sel´gen Base / Trübe Augen” (III)

Christine Schäfer, Berliner Philharmoniker, Ltg.: Nikolaus Harnoncourt

TELDEC, 4509-97758-2, LC 6019

 

Christine Schäfer als Ännchen und die Berliner Philharmoniker unter Nikolaus Harnoncourt mit Romanze und Arie des Ännchen aus Webers “Freischütz” - unter Bratschen oft einfach nur “der Kettenhund” genannt.

 

Apropos Hund: Was ist der Unterschied zwischen einem Bratscher und einem Hund?

Der Hund weiß, wann er aufhören muß zu kratzen ...

 

Und dann war da noch der Bratscher auf Wanderschaft in der Lüneburger Heide. Er traf einen Schäfer und seine Herde und fand Gefallen an den Tieren. Also fragte er den Hirten: “Wenn ich erraten kann, wie viele Schafe sie haben, kann ich dann eines davon haben?”

Nun, der Hirt wunderte sich zwar, willigte aber schließlich ein, denn wie sollte der Mann wohl die genaue Zahl der Schafe schätzen. “In Ordnung”, sagte er. Der Bratscher schätzte, “Sie haben 287 Schafe”, sehr zur Überraschung des Schäfers, denn es war exakt die Zahl seiner Schafe. Also suchte sich der Bratscher ein Tier aus, bückte sich, hob es auf und legte es sich über die Schultern.

Da hatte der Schäfer eine Idee und sagte: “Wenn ich Ihren Beruf errate, kann ich mein Schaf dann zurück haben?” Der Bratscher war sicher, daß der Schäfer seinen Beruf nicht erraten würde und stimmt zu.  “Sie sind Bratscher, nicht wahr?” sagte der Schäfer.

“Wie haben Sie das denn erraten?”, fragte der Bratscher und der Schäfer antwortete: “Legen Sie meinen Hund wieder hin und wir reden darüber”...

 

Vollends auf den Hund gekommen ist übrigens eine Bratsche im zweiten Satz von Antonio Vivaldis Jahreszeiten-Konzert “Der Frühling”. Die Bratsche muß den bellenden Schäferhund geben, während die Sologeige die süßen Träume des Schäfers erblühen läßt, untermalt vom Säuseln der Blätter in den Geigen.

MUSIK 8                                                                CD Track 2                          ausblenden bis   1´18

Antonio Vivaldi: La Primavera op. 8, 1   , 2. Satz

Giuliano Carmignola (Violine und Leitung), Sonatori della Gioiosa Marca

DIVOX, CDX-79404, LC


 

Wo wir gerade bei der Barockmusik sind: Wußten Sie schon, wie die Fuge erfunden worden ist? Durch puren Zufall: zwei Bratscher haben nämlich versucht, zusammen, gleichzeitig eine Melodie zu spielen. Aber wie das so ist, wenn Bratscher versuchen, zusammen zu spielen, ein Bratscher ist eben immer zu spät.

 

So war es auch beim Betriebsausflug eines Orchesters in den Weinberg. Man wollte Weinbergschnecken sammeln und abends gemeinsam zubereiten. Kurz vor Mitternacht, als die Tische längst abgeräumt waren, kam endlich schweißgebadet und mit hochrotem Kopf der Solobratscher mit seinem Sammelkörbchen zurück. Ganze zwei Schnecken hatte er gefangen. “Wo hast Du so lange gesteckt?” wollen die Kollegen wissen. Und der Solobratscher, noch ganz außer Atem, seufzt: “Also diese Schnecken! Da hat man sie fast schon gegriffen, und - husch - weg sind sie.”

 

Mit dem Warten hat die nächste Musik zu tun - diesmal aber nicht mit dem Warten auf einen langsamen Bratscher, sondern mit dem Warten auf einen Zug. Sicher kennen Sie das selbst: Sie stehen auf dem Bahnsteig, wippen unruhig von einem Fuß auf den anderen - und vielleicht beginnen Sie unruhig vor sich hin zu pfeifen oder zu summen - irgendeine unbestimmte richtungslose Melodie.

 

Genau so etwas hat der australisch-englisch-amerikanische Komponist Percy Grainger komponiert: “Arrival Platform Humlet” heißt dies kuriose Stück - geschrieben übrigens für entweder eine Solo-Bratsche oder mehrere Bratschen, für Oboe, Fagott, Englischhorn oder jeweils mehrere davon, oder auch für eine Singstimme oder einen Chor - ganz wie´s beliebt. Hier sind es wieder 48 Bratschen - ungeduldig auf dem Bahnsteig, aber entgegen allen Unkenrufen schnell und zusammen!

 

MUSIK 9                                                Viola Sound-CD Track 5                                   2´46

Percy Grainger: Arrival Platform Humlet

48 Bratschen aus Academy of St. Martin in-the-Fields, BBC Symphony Orchestra, The London Philharmonic und Orchestra of the English National Opera.

CALA, CACD 0106

 

Kennen Sie übrigens schon den kürzesten Bratscherwitz?

Treffen sich zwei Bratscher auf einem Meisterkurs.

 

Und der längste Bratschenwitz? Der dauert rund vierzig Minuten, ist von Hector Berlioz und heißt “Harold in Italien” - Harold en Italie - eine Symphonie mit Solo-Bratsche.

 


Warum ein Witz? Nun, die Bratsche steht in diesem Stück für den Titelhelden Harold aus Lord Byrons Versepos “Childe Harold´s Pilgrimage” - die Pilgerfahrt Kind Harolds. Dieser Held ist ein romantischer Träumer - insofern ist die Bratsche genau das richtige Instrument für ihn. Aber Berlioz hat ihm in den vier italienischen Szenen seiner Symphonie nur die Rolle eines Zuschauers gegeben. Er nimmt nicht Teil am Geschehen, steht am Rande, muß mehr zuhören als selbst sprechen und wird im Finale sogar gnadenlos überspielt. Fast ist dieses Nicht-Konzert ein klingendes Gleichnis für so viele nicht erzählte Bratscher-Schicksale - eben der längste Bratschenwitz.

 

Doch immerhin: Berlioz hat seinem Solisten den einen oder anderen besonderen Effekt zugedacht, zum Beispiel das bis dahin auf der Bratsche noch nicht angewandte Spiel “sul ponticello”. Dabei wird der Bogen ganz dicht am Steg geführt, dem kleinen Holzbrückchen, das die Saiten trägt. Der Klang wird dann ganz glasig. Berlioz setzt das ein, als Harold einen Pilgerzug beim Singen des Abendgebets beobachtet.

 

MUSIK 10                                                              CD Track 2   < 2:33 - 5:37 >                              3´04

Hector Berlioz: Harold en Italie, op. 16,   2. Satz: Marche des pèlerins

Gérard Caussé (Viola), Orchestre Révolutionaire et Romantique, Ltg.: John Eliot Gardiner

PHILIPS, 446 676-2, LC

 

Harold in Italien war übrigens ursprünglich ein Auftragswerk Paganinis. Der war von Berlioz “Symphonie fantastique” derart begeistert, daß er von Berlioz ein Solokonzert für Bratsche und Orchester wünschte. Allerdings, als Paganini dann die ersten Ergebnisse zu sehen bekam, meinte er: “Das geht nicht! Ich schweige hier viel zu lange! Ich muß immerfort zu spielen haben!” Das aber wollte Berlioz nicht. Offenbar hielt schon Paganini den Harold für einen Witz und hat den Auftrag storniert. Erst Jahre später soll er das Werk dann doch begeistert gelobt haben. Gespielt hat er es aber nie.

 

Woran Paganini bei dem Auftrag wohl eher gedacht hatte, das hat er schließlich selbst komponiert, aber auch nicht Konzert genannt, sondern Sonata per la Grand´Viola e Orchestra. Der Bratscher Hartmut Lindemann hat sie wie eine Sonate mit Klavierbegleitung aufgenommen - mit Günther Herzfeld am Klavier.

 

MUSIK 11                                                              CD Track 8           ab 8:58                                 4´18

stumm starten 9 h 48´20

Niccolò Paganini: Sonata per la Grand´Viola e Orchestra (Schluß)

Hartmut Lindemann (Viola), Günther Herzfeld (Klavier)

TACET, 21, LC 7033

 

Solche Musik für die Bratsche, solche Höhen, so schnelle Läufe und Sprünge, das kann sich nur ein Geiger ausgedacht haben - Niccolò Paganini. Immerhin: Ein Bratscher konnte es staunenswert spielen: Hartmut Lindemann - übrigens ein sogenannter “Edelbratscher”, einer der vorher nicht Geige gespielt hat.

 


Dabei lehrt uns doch die schönste Typologie des Bratschers in Aulich und Heimerans “Stillvergnügtem Streichquartett”: “Die Bratsche ist eigentlich gar keine Bratsche! Es ist ein Geiger mit bitteren Erfahrungen. Auch er saß einst am Geigenpult - aber nicht lange. Der einmütige Protest der Zuhörer hat ihn vertrieben. Er spielte so hoch er konnte; es war nicht hoch genug. Seine Läufe mochten noch so schnell sein, es gelang ihm nicht, über das Fehlen der vorgeschriebenen Notenzahl hinwegzutäuschen. Das Dienstmädchen des Hauses war ständig damit beschäftigt, fallengelassene Noten unter seinem Stuhle aufzulesen. Es ging nicht mehr. Da faßte er den Entschluß und rückte um einen Stuhl weiter zur Bratsche. Dort wirkt er in Frieden. Mögen die da oben sich noch so unziemlich gebärden, er sagt sein stilles, ernstes, ein bißchen wehmütiges Wort dazu. Und wenn er es nicht sagt, wo er es eigentlich sagen sollte, so ist das auch nicht schlimm. Die Zuhörer merken es doch nicht und die Mitspieler drücken ein Ohr zu. Sie behandeln ihn mit jener taktvollen Diskretion, die man einem heruntergekommenen Standesgenossen gegenüber anwendet. Er ist eine heroisch-tragische Natur.”

 

Ach, übrigens, habe ich Ihnen eigentlich schon verraten, daß ich auch Bratscher bin?

Und somit zu den Leuten gehöre, die Bratscherwitze am allerliebsten weitererzählen und mittlerweile sogar im Internet sammeln? Getreu dem Motto - frei nach berühmten Indianerwort: “Erst wenn der letzte C-Schlüssel transponiert, die letzte Viola verschimmelt, alle Bratschenlehrer vertrieben sind, werdet Ihr feststellen, daß man über anderer Streicher nicht so schöne Witze machen kann.”

 

MUSIK 12                                              Viola Sound-CD Track 4                                                    4´08

Antonin Dvo_ák (K), Julian Milone (Arr): Slawischer Tanz e-Moll

48 Bratschen aus Academy of St. Martin in-the-Fields, BBC Symphony Orchestra, The London Philharmonic und Orchestra of the English National Opera.

CALA, CACD 0106

 

 

Buchtip:

 

Bratschenwitze, gesammelt von Lisei Bäuerle, Helmolt und Torsten Schmidt, Zürich und Mainz (Atlantis), 1997

Bestellnummer: ATL 6225

ISBN 3-254-00225-3

 

Aulich, Bruno und Heimeran, Ernst, Das stillvergnügte Streichquartett, München (Ernst Heimeran) 1936. (Zahlreiche überarbeitete Neuauflagen!)

 

 

BRATSCHERWITZE und Forschungen darüber IM INTERNET:

zu finden über Suchworte:

- viola jokes

- Bratscherwitze

- Musikerwitze